Der Körper der Zeit (Maria Holzmann)
Du hast gesagt, ich bin dein Jahr. Dass du mich nie loslassen wirst. Dass du mit mir an deiner Seite alles schaffen kannst. Und trotz all dem hast du mich fallen lassen. Unter lautem Getöse und Ballern im Sternenhimmel hast du mich entsorgt. Als wäre ich der Zettel eines Glückskeks, den du immer behalten willst, der schlussendlich aber doch im Müll landet.
Und nun steh ich da. Es ist schwarz und mein Körper aus deinen Momenten und deinen Erlebnissen fühlt sich unglaublich schwach und winzig an. Mit Sehnsucht denke ich an meinen alten Körper, er konnte deinen ganzen Planeten mit spielerischer Leichtigkeit umhüllen. Aber jetzt.
Ich schnaube in die Stille. Nochmal. Nein, warte, das war nicht ich. Ich blicke auf und vor mir ist einer von Meinen. Ohne irgendwelche Hilfe weiß ich, dass dies mein Vorgänger ist. 2020.
Das Jahr schnaubt nochmal: “Das war auch meine erste Reaktion. Verlassen und allein, wie ich war.”
Die Stimme trällert und wabert durch den luftlosen Raum. “Aber dann zeigte mir 2018 etwas. Unsere Körper können wieder aufstehen.”
Etwas an mir muss es zum Weiterreden gebracht haben: “Lass mich erklären: 2018 kehrte auf die Erde zurück, als Unheil, verstehst du? 2019 tut das Gleiche bei mir und ich tat das bei dir.”
Der körperlose Körper flackert. “Als Rache, verstehst du? Mir ging es auf die Flecken, dass sie uns einfach vergessen und entsorgt hat!”
Und wie zur Bestätigung tauchen braune Flecken auf seinem Körper auf. “Nun ist es deine Zeit. Wirst du unsere Rache fortführen?”
2021 (anonym)
Es steht allein. Fühlt sich fremd, unnütz. Es weiß, dass irgendwann auch es den Rücktritt hätte wagen müssen. Dennoch ist die Tatsache, einfach so abserviert zu werden, schmerzhaft, verletzend wie das Gefühl tiefster Enttäuschung.
Die anderen Jahre bezeichnen 2021 als Außenseiter.
„Das ist das Neue.“
„Warum spricht es nicht?“
„Etwa Angst?“
Blöde Sprüche, unnötige Kommentare, sowie einige Beleidigungen werden zum Alltag des eben ausgeklungenen Jahres 2021.
Die Menschen feiern, lachen und wünschen sich viel Gesundheit, Glück und Segen. „Ein schönes neues Jahr!“, „Bleibt gesund!“.
Das alte Jahr lauscht den zahlreichen menschlichen Stimmen und betrachtet stillschweigend, wie 2022 mehr und mehr seinen Platz einnimmt. Erst sind es Tage, folgend Monate, bis schließlich das Jahr 2022 ausgelaugt und schweißgebadet neben 2021 auftaucht. Gespannte, abwartende Augenpaare.
Ein Seufzen, ein gesenkter Blick, eine unerwartete Antwort.