Stimmen (anonym)
Sie steht lächelnd auf der Bühne. Ihr schulterlanges, dunkelbraunes Haar glänzt im Rampenlicht. In ihren blauen Augen erkennt man die Erleichterung, endlich ihre Angst überwunden zu haben, dort oben zu stehen und alle ihre bezaubernde Stimme hören zu lassen. Diesmal haben die Stimmen in ihrem Kopf, die ihr dauernd einreden, dass sie es nicht schaffen wird, verloren. Diesmal hat sie an sich selbst geglaubt. Und nicht den Stimmen.
Stimmen (Lilli Marie Röd)
Stille,
ein Fremdwort für die meisten- aber nicht für sie.
Bella lag stillschweigend in Dunkelheit gehüllt auf dem harten Bettgestell. Die Stille würde jäh unterbrochen werden, sobald ein Klackern zu hören wäre, und jemand, dessen Ankunft schon vor mehreren Stunden überfällig war, das ansehnliche Familienhaus betreten würde. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es bereits Viertel vor Zwölf war. Langsam, darauf bedacht keinen Muchs von sich zu geben, schälte sich das Mädchen aus der Decke und setzte die eiskalten Füße auf den alten Dielenboden. Das alte Holz knackste und knarrte unter jeder noch so kleinen Bewegung des Mädchens. Schritt für Schritt arbeitete sie sich in Richtung Küche vor. Das Licht des Mondes leuchtete ihr den Weg und sie folgte dieser vertrauten Erscheinung. Jeder Schritt schien ewig zu dauern und jede Bewegung um das Vielfache verstärkt. Eine ihrer Hände fand wie von selbst ihren Weg zum Treppengeländer. Von dieser vertrauten Berührung bestärkt, beschleunigte sie ihre Schritte, bog in den unteren Flur und fand die Küche vor. So ruhig und friedlich, als hätte es nie so schlimme Zeiten gegeben. Bella drehte den Wasserhahn auf und griff nach einem Glas. Urplötzlich hielt das Mädchen in ihrer Bewegung inne. Pom-Pom. In dieser Sekunde hielt die Welt inne und das Mädchen den Atem an. Mit einem ohrenbetäubenden Klirren war das Glas zu Boden gefallen und die Scherben lagen überall verstreut. Doch von dieser Tatsache schien das Mädchen absolut keine Notiz genommen zu haben. Hektisch drehte sie ihren Kopf, um denjenigen zu finden, zu dem die Schritte gehörten. Doch tief in ihr wusste sie nur zu gut, zu wem dieser furchteinflößende Gang gehörte. Bella lief es eiskalt den Rücken runter und sie rannte. Rannte, ohne auf die Schmerzen zu achten, die die scharfen Glassplitter auf ihren Füßen hinterließen. Rannte Stockwerk um Stockwerk, um den einzigen und wahrhaftigen Grauen zu entkommen und schlug mit voller Wucht die Tür hinter sich zu.
Die Lüge (anonym)
„Olivia?“
„Ja, ich komme!“ Schnell laufe ich die Holztreppe hinunter, rutsche fast aus, kann mich aber noch rechtzeitig fangen. Ich rausche zur Küchentür und reiße sie auf. „Was ist los?“
Was soll ich ihr nur erzählen? „Ähm…“
„Die Wahrheit, bitte.“
„Okay, ich war auf dem Sportplatz.“
„Du? Was hast du denn da gemacht?“
„Trainiert, was denn sonst?“
Der erstaunte Blick meiner Mutter hält dem meinen stand. Sie weiß, dass ich gelogen habe. Doch sie wird niemals erfahren, wo ich wirklich war.
Es ist besser so.
Die Bibliothek, die nur in meinem Kopf ist (Maria Holzmann)
Ich lag wie taub in meinem Bett. Meine Augen musterten die Maserung der Decke. Wie immer suchte ich das Pferd und den Dino. Sie waren meine Begleiter, sie waren immer da, seit ich in dieses Zimmer eingezogen war. Aber jetzt gerade wollte ich sie nicht sehen. Sie waren es nicht, nach dem mein Herz schrie, dessen Pochen leicht schmerzte und eine melancholische Traurigkeit in meinem Körper verbreitete.
Ich schloss meine Augen. Flüchtete. Vor der realen Welt. Vor dem Stress. Vielleicht auch vor mir selbst. Meinem jetzigem, aktuellem ich. Mit jedem weiteren Atemzug verließen meine Gedanken mein Zimmer und wanderten einen Weg entlang. Mein Ziel war ihnen bewusst und sie brachten mich zuverlässig dorthin.
Schließlich fand ich mich in einem Raum wieder. Es war ein komischer Raum. Überall standen Regale voller Bücher. Dicke und dünne, bunte und einfärbige auf braunem dunklem altem Holz. Die Regale waren riesig und hoch. Wenn man hochschaute, konnte man die Decke nicht erkennen. Aber weit war der Raum nicht. Jedenfalls schien es so. Mich umgab nämlich eine Nebelwand. Drei Meter, so schätzte ich die Distanz. Die milchige Suppe schien freundlich, ich sah sie nicht als bedrohlich an. Sie schützte mich. Durch sie konnten keine Geräusche durchdringen, sie schirmte mich ab. Ich lächelte und dankte dem Nebel stumm.
Meine Beine bewegten sich. Sofort bewegte sich der Nebel auch, wie ein Turm um mich herum. Aber das erschwerte meine Orientierung nicht. Ich musste nur auf mein Herz hören, ihm folgen. Es zeigte mir den Weg, der für mich, für es richtig war. So folgte ich dem Pochen, es leitete mich durch die endlos scheinenden Bücherregale. Ihr Geruch umhüllte mich, Papier, gepresstes Holz, Wörter und Wunder. Ihr Geruch betörte mich, beflügelte mich und wirkte wie eine Droge. Man bekam nie genug von ihnen.
Schließlich blieb ich stehen. Das Regal vor mir war anders als alle anderen. Vielleicht zog es mich deshalb so oft her. Während alle anderen gerade und linear in Reihe standen, das dunkle Holz sich unter dem Gewicht krümmte und die Bücher in Reih und Glied standen, empfing mich hier eine kleine Gruppe rundgeformter bunter Regale, Sitzsäcke und Bücherstapel.
Lächelnd ließ ich mich auf einen Sitzsack nieder und öffnete ein Buch. Wind kam auf, wirbelte die Wörter aus den Blättern und formte eine Gestalt. Nach und nach nahm sie Farbe an und ich hörte ein helles Lachen. Schließlich stand sie vor mir.
Ein kleines Mädchen. Ihre kurzen braunen Haare kräuselten in alle Richtungen und ihre Augen blitzten schelmisch. Sie war eine Version von mir, aus längst vergangenen Zeiten, die leider schon lange außer Reichweite waren.
Ich lächelte und zeigte auf den Sitzsack neben mir.
“Bitte.”, bat ich das Mädchen. “Bitte erzähl mir deine Geschichte.”
Ein Brief der Wellen (Maria Holzmann)
Liebe Mama,
Du wirst mir gar nicht glauben, was ich dir jetzt schreibe und nur wieder denken, dass meine Fantasie mit mir durchgegangen ist. Trotzdem muss ich es dir erzählen.
Nachdem das Flugzeug im Meer abgestürzt ist, habe ich auf wunderliche Weise überlebt. Die Wellen schwemmten mich an einen Strand. Als ich aufwachte, begrüßten mich Sandkörner in schönstem Gold, Muscheln in allen nur erdenklichen Farben lagen verstreut und das Wasser schien zu leuchten. Neugierig wanderte ich weiter ins Innere der Insel, zwischen blauwirkenden Bäumen und Blättern wanderte ich, bunte Insekten in schillerten Farben surrten und füllten den Wald mit einer betörenden Melodie. Blumen, riesige Blumen in nicht fassbarer Schönheit wandten sich mir zu. Je weiter ich ging, desto sumpfiger wurde es und ich kletterte über umgefallene Baumstämme, deren Rinde mit blaugrünem Moos und ausgeprägter Maserung geziert waren.
Plötzlich erspähte ich ein Tier auf einem Baumstamm, der aus dem Sumpfwasser ragte.
Oh mein Gott, das Tier. Es war von solcher Schönheit und Anmut, dass es mir den Atem raubte. Es hatte den Körper eines Panthers, doch sein Schwanz war der eines Pfaus. Herrliches Königsblau mit Waldgrün und Gold gemischt. Mit der Würde eines Königs musterte es den Sumpf um sich herum. Seine Augen strahlten im grellen Gelb. Langsam entdeckte ich weitere Tiere dieser Art, auf den Bäumen, halb im Wasser, auf den verstreuten Inseln. Auf einer Insel war ein etwas kleinerer Panther, um ihn herum sprangen Junge. Ihr Fell war flaumig und sandfarben, sogar aus der Ferne konnte ich das erkennen. Ihr Schwanz hatte braune Federn mit schwarzen Punkten. Sie knurrten und jaulten spielerisch und ihre Bewegungen rissen mich in ihren Bann. Nur schweren Herzens konnte ich mich vom Anblick losreißen und ging weiter, wunderte mich, was es sonst noch gab.
Ich musste nicht lange warten, schon bald hörte ich ein Krächzen und meine Augen schossen zum Himmel. Ober mir flogen Kreaturen, wir nennen sie Drachen, doch kein Wort käme ihnen gerecht. Ihre Schuppen glänzten in der Sonne und blendeten mich, ihre Schwingen spielten ein Lied mit der Luft, ihre Augen waren wie Kristalle, so schön, dass man es kaum glaubte. Ich folgte den langgestreckten Tieren und erreichte einen Berg. Voller Vorfreude und außer Atem erklomm ich ihn und entdeckte auf der Spitze Höhlen. Viele Höhlen, der ganze Berg war voll damit. In der Mitte war ein See aus blubbernder Lava und Dutzende Drachen wärmten sich am Ufer. Große, kleine, alte, junge. Versteckt hinter einem Felsen studierte ich sie: Ihre Körper waren lang, sie hatten dünne, edle Beine und Krallen, mit denen sie umgehen konnten, wie mit einer Hand. Ihre Köpfe waren länglich und schmal, auf der Unterseite ein helles Gelb. Sie erstrahlten in allen Farben, rot und gelb und grün und blau, lila und silber, schwarz und orange. Ihre Schuppen klirrten leise, wenn sie sich bewegten und ihre Augen sahen sich ruhig um. Ihre Pupille war oval und groß, die Iris war ein schmaler Strich außen rum. In der Abenddämmerung dann ging ein wohliges Leuchten von ihnen aus und das Licht der Kleinsten huschte nur so umher, so aufgeregt spielten sie.
Die Luft war kalt, der Wind pfiff um meine Ohren, riss an meiner Kleidung. Ängstlich kniff ich meine Augen zusammen und zog meine Knie an mein Kinn. Dann. Wasser. Tiefes Blau schlug über mir zusammen, tausende Luftbläschen wirbelten um mich herum. Die Angst lähmte mich, presste mir die Luft aus den Lungen und ich sank wie ein schwerer Sack nach unten. Meine Tränen, honigsüß, vermischten sich mit dem salzigen Wasser des Meeres und ich sah schon meinen Tod.
Aber wäre ich tot, könnte ich dir nicht schreiben.
Ich wurde gerettet. Von einem Wesen, das du dir kaum vorstellen kannst. Sein glatter Körper wand sich um mich herum und ich starrte in riesig rote Augen. Das blaue Wasser leuchtete blutrot und vor Schrecken öffnete ich meinen Mund und ließ den letzten Rest Luft aufsteigen. Der kompakte Kopf schaute meiner letzten Lebensquelle hinterher, der schlangenähnliche Körper bewegte sich träge im Wasser.
Das war das Letzte, an das ich mich erinnern kann.
Später wachte ich wieder an einem Strand auf, wurde wieder vom Goldstrand begrüßt.
Das ist nun drei Wochen her. Ich würde dir gerne mehr erzählen, aber kein Papier der Welt ist groß genug, dieses Paradies in Worte zu fassen. Ich hoffe, die Wellen tragen diesen Text zu dir und du weißt, dass es mir gut geht und dass ich lebe.
Meine Welt seid ihr.
Padu Port (anonym)
Die Rufe der Menschen drangen wie Watte zu mir durch, sie alle jubelten meinen Gegnern zu. Vorsichtig tätschelte ich den Hals meines Falben, meines Schatzes. Der Hengst war alles, was ich hatte, und wenn wir heute nicht gewinnen würden, würde ich ihn verkaufen müssen. Ich strich nochmal über die kastanienfarbene Mähne, bevor ich in den Sattel stieg. Meine Hände zitterten, als ich die Zügel straffte. Zecke merkte das. Er drehte seinen Kopf und sah mich mit blauen Augen fragend an.
Viele würden ihn als hässlich einstufen. Großer Kopf mit kleinen Ohren, seine Beine zu lang und der Bauch zu dick. Aber so wie bei den Menschen gab es auch unter Pferden verschiedene Aussehen und mich störte es nicht. Zecke war mein Freund.
Beruhigend strich ich ihm über den Hals und sagte: “Lass uns gewinnen, dass wir auf ewig zusammen bleiben!”
Zeckes Augen blitzten zustimmend und der weiße Stern schien auf dem sandfarbenen Fell zu leuchten. Sein Kriegswiehern hallte laut in dem Summen der Menschen.